Prof. Dr. Helga Schultz Wirtschafts- und Sozialhistorikerin

EXPOSÉ

EUROPÄISCHER SOZIALISMUS IMMER ANDERS

Karl Kautsky — George Bernard Shaw — Jean Jaurès — Józef Piłsudski — Alexander Stambolijski — Vladimir Medem — Leo Trotzki — Otto Bauer — Andreu Nin — Josip Broz Tito — Herbert Marcuse — Alva und Gunnar Myrdal

Geschichten von Gelehrten und Eiferern, Abtrünnigen und Märtyrern werden erzählt, das Jahrhundert von 1880 bis 1980 umfassend: von Karl Kautsky, dem Lehrer der europäischen Sozialdemokratie, den Lenin zum Renegaten stempelte; von George Bernard Shaw, der Dramatiker wurde, weil er Sozialist war; von Jean Jaurès, der als Friedensapostel am Vorabend des Ersten Weltkriegs erschossen wurde; von Józef Piłsudski, dessen Sozialismus sich im freien Polen erfüllt vom bulgarischen Bauernsozialisten Alexander Stambolijski, den makedonische Nationalisten abschlachteten; von Leo Trotzki, dem Luzifer der Weltrevolution; vom österreichischen Hamlet Otto Bauer; vom katalanischen Anarchosyndikalisten Andreu Nin, der von Kommunisten ermordet wurde; von Josip Broz Tito, der sich erst gegen Hitler und dann gegen Stalin behauptete; von Herbert Marcuse, dem Propheten der Jugendrevolte von 1968; von Alva und Gunnar Myrdal, den Architekten des schwedischen Volksheims.

Der Sozialismus war eine europäische Schöpfung, die global wurde. Die Biographien bilden die regionalen Ausprägungen und die Strömungen ab. Sie waren in Streit und Solidarität vernetzt – in der schweizerischen Emigration, in Briefwechseln, in Kautskys „Neuer Zeit“, die für ein Vierteljahrhundert ein europäisches Publikationsorgan war, und in der revolutionären Aktion. Die russische Revolution und der spanische Bürgerkrieg wurden europäisches Ereignis. In der pluralistischen zweiten Internationale stritten noch Shaw und Jaurès gemeinsam mit den Marxisten Kautsky, Trotzki und Medem gegen den herannahenden Ersten Weltkrieg. Die dritte, kommunistische Internationale bekämpfte als Instrument von Stalins Machtpolitik die Kommunisten Trotzki, Nin und Tito erbarmungslos. Herbert Marcuse steht für die Herausbildung einer Neuen Linken seit den sechziger Jahren, die nicht mehr europäisch, sondern transatlantisch und in der Orientierung global war.

Durch das Jahrhundert zog sich der Streit um Revolution oder Reform, Selbstorganisation der Arbeiter oder Staat, Internationalismus oder Nation. Jeder der hier vorgestellten Köpfe fand andere Antworten auf diese Fragen. Lösungen liegen auch heute nicht auf der Hand, wo die Arbeiterbewegung erloschen scheint, die Revolutionäre den Sozialismus verabschiedet haben, der Internationalismus im globalen Wettstreit zugrunde geht und die Neue Linke neoliberale Pfade beschreitet. Bleibt von allen Kämpfen und Konzepten mehr als Schrecken und Schmach des untergegangenen Staatssozialismus sowjetischen Typs? Die Erfahrungen können wohl helfen, eine neue Idee des Sozialen zu formulieren, denn Atlas kann die Welt nicht nur auf der rechten Schulter tragen.

Die lebensgeschichtlichen Erzählungen sind verbunden mit verständlichen, kurzen Darlegungen grundlegender Ideen. Auf komplizierte theoretische Begrifflichkeit wird verzichtet. Die gleichberechtigte Aufnahme des östlichen Europa und von Strömungen wie des jüdischen Sozialismus, des Anarchosyndikalismus und des Agrarsozialismus erweitert die gängige Sichtweise. Damit liegt ein Handbuch vor, das sich an einen breiteren politisch und historisch interessierten Leserkreis wendet.