Prof. Dr. Helga Schultz Wirtschafts- und Sozialhistorikerin

Publikationen

Zum Schicksal der Geschichts- und Sozialwissenschaften der DDR seit der Vereinigung

Es gab in der DDR eine Geschichtswissenschaft mit all ihren Forschungs- und Universitätsinstituten, mit Zeitschriften und Jahrbüchern, mit Fachverbänden und Tagungen.

Sie kann ja wohl kaum nur indoktrinierte Wissenschaft auf niederem Niveau gewesen sein. - Dagegen spricht die Präsenz in der internationalen Historikerwelt: Man schaue sich nur die Programme der letzten internationalen Historikerkongresse an, bis hin zu dem von Madrid. Das war doch wohl ein Indikator wissenschaftlicher Qualität.

Es gibt einen anderen Maßstab: Die Bücher von DDR-Historikern wurden im eigenen Lande viel und z. T. begierig gelesen. Zehntausenderauflagen waren eher die Regel als die Ausnahme. 30.000 Vorbestellungen lagen in den Buchhandlungen für Engelbergs Bismarck-Biographie. Der Mediävist Epperlein hatte einen Fanklub in einer lausitzischen Provinzstadt. Rasch folgten die Neuauflagen von Erfurter Stadtgeschichte oder Sächsischer Geschichte aufeinander.

Dies alles ist vom Erdboden verschwunden. Die Akademie-Institute sind abgewickelt. Nur ganz wenige Geistes- und Sozialwissenschaftler, rund hundert von zweitausend, haben Zeitstellen bei den neuen Zentren der Max-Planck-Tochtergesellschaft bekommen. Die Historiker sind im Vorruhestand, in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des Arbeitsamtes, oder sie befinden sich in fragilen Auffangprogrammen, wie dem Wissenschaftler-Integrationsprogramm, wo wir jetzt im März auf Arbeitsverträge warten, die bis zum Ende dieses Jahres gelten sollen. Dann wird man weiter sehen. Institutsdirektoren der alten Akademie wie Thomas Kuczynski und Joachim Herrmann hat man übrigens nicht einmal in dieses Programm aufgenommen.

Die Integration der Akademieforscher in die Universitäten, von der bei der Evaluation des Wissenschaftsrates die Rede war, hat sich als Fata Morgana erwiesen. An den Universitäten bangen die Kollegen um ihre Arbeitsplätze, denn dort geht gerade das große Reinemachen zugunsten der Neubesetzungen aus dem Westen los. Die Hand voll Alibi-Ostdeutschen darf ich hier wohl vernachlässigen.

Warum haben wir uns nicht gewehrt? Haben wir wirklich geglaubt, durch Anpassung Arbeitsmöglichkeiten zu retten? Diesen Vorwurf macht nun die Generation unserer Lehrer, alte Wissenschaftler wie Professor Friedrich Jung, der ehemalige Direktor des Zentralinstituts für Molekularbiologie in Berlin- Buch. Der Vorwurf richtet sich an jene, die im raschen Personalwechsel der Wendezeit die Verantwortung für diese Institute trugen. Ich war im letzten Jahr Vorsitzende des Wissenschaftlichen Rates unseres Instituts, und muß diesen Vorwurf annehmen.

Das neue Deutschland braucht offensichtlich die Historiker der ehemaligen DDR so wenig, wie die Molekularbiologen, die Wissenschaftler so wenig, wie die Schiffbauer oder die Textilarbeiterinnen. Was vorgeht, ist ein ideologisch-politisch verbrämter Verteilungskampf um Stellen und Forschungsmittel. Nein, aus unserer Sicht ist es kein Verteilungskampf, sondern eine Landnahme. Und wie bei der ersten Kolonisation des ostelbischen Deutschland beugen wir den Rücken und nehmen die Segnungen der überlegenen Zivilisation hin.

Prof. Dr. habil. Helga Schultz