Prof. Dr. Helga Schultz Wirtschafts- und Sozialhistorikerin

Publikationen

Die Bedeutung der alten Viadrina für die deutsch-polnischen Wissenschaftsbeziehungen

Dieser Überblick beruht nicht auf eigenen Forschungen, sondern er will Forschungen auf diesem Felde anregen, indem er die Literatur zusammenfaßt. Ich verdanke die beschriebenen Fakten und Einsichten vor allem folgenden Arbeiten: Haase, Günther / Winkler, Joachim (Hrsg.): Die Oder-Universität Frankfurt. Beiträge zu ihrer Geschichte, Weimar 1983, darin: Mühlpfordt, Günter: Die Oder-Universität 1506-1811, S. 19-72; Feyl, Othmar: Die Viadrina und das östliche Europa, S. 105-139; Rietz, Henryk: Die Beziehungen zwischen Torun' und der Universität Frankfurt (Oder), S. 140-147; Drozdowski, Marian: Polnische Studenten an der Viadrina im 18. Jahrhundert, S. 148-153; Molik, Witold: Polnische Studenten an der Universität in Frankfurt (Oder) um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert, S. 154-158. - Kliesch, G.: Der Einfluß der Universität Frankfurt/Oder auf die schlesische Bildungsgeschichte. Dargestellt an den Breslauer Immatrikulierten von 1506-1648, Würzburg 1961. - Römer, Christoph: Herkunft der Studenten der Universität Frankfurt/Oder 1506-1810, Berlin 1980 (= Historischer Atlas von Brandenburg und Berlin, Nachträge, Heft 2). - Wojciechowski, Krysztof (Hrsg.): Die wissenschaftlichen Größen der Viadrina, Frankfurt/Oder 1992 (= Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder, Universitätsschriften 2), darin: Targiel, Ralf-Rüdiger: Konrad Koch-Wimpina - Gründungsrektor der ersten Frankfurter Universität, S. 37-48; Grau, Conrad. Paul Ernst Jablonski und die Ägyptenkunde an der Frankfurter Universität im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur europäischen Wissenschaftskommunikation, S. 99-114; Mühlpfordt, Günter: Alexander Gottlieb Baumgarten und die Europa-Wirkung der Frankfurter Aufklärer, S. 115-136; Vetter, Klaus: Berühmte und bemerkenswerte Frankfurter Studenten und Bemerkenswertes über Frankfurter Studenten, S. 147-160.

1. Grundlage und Forschungsstand. Urteile und Fehlurteile über die alte Viadrina

Die alte Viadrina ist unter den untergegangenen deutschen Universitäten wohl die am gründlichsten vergessene. Begreiflicherweise wurde das Andenken dieser Hohen Schule weder von der Berliner Universität, deren Gründung sie im Jahre 1811 weichen mußte, noch von der Breslauer Universität, wohin sie verlegt wurde, besonders gepflegt. Keinerlei akademische Einrichtungen gab es in Frankfurt nach der Schließung der Universität, die sich der Tradition hätten widmen können, wie es die Medizinische Akademie in Erfurt tat. Die Nachfolgeuniversitäten in Berlin und Breslau pflegten eher die Vorurteile gegenüber der Vorgängerin, um das Licht der neuen Friedrich-Wilhelms-Universitäten um so heller leuchten zu lassen. Abfällige Bewertungen der Viadrina wurden zu einem Topos in der deutschen Universitätsgeschichtsschreibung. Provinzialität, langsames Absterben vor der Schließung sind die gängigsten Fehlurteile. Sie waren geboren aus der Rechtfertigung des Endes der Viadrina, die in ihren letzten Jahren in doppelter Abwehrstellung gegen Wöllnersche und nachwöllnersche Reaktion und preußische Reformpartei stand.

Der Druck der Matrikel durch Ernst Friedländer in den Jahren 1887 bis 1891 blieb lange die bedeutendste Leistung im Umgang mit dem Erbe der alten Viadrina. Und diese Matrikel offenbart ein anderes Bild. Frankfurt erscheint bei genauerer Betrachtung als Vermittlerin west- und osteuropäischer Wissenschaften und Kultur. Diese Mittlerfunktion kennzeichnete die Universität an der Oder mehr als andere deutsche Universitäten während der drei Jahrhunderte ihrer Existenz. Frankfurt war zu solcher Rolle nicht nur durch seine östliche geographische Lage prädestiniert, die seine Messen lange zum wichtigsten Ost-West-Handelsplatz neben Leipzig machte. Zwar wies schon diese Lage der Universität das nordöstliche Mitteleuropa als Einzugsgebiet seiner Studentenschaft zu. Ebenso wichtig oder noch wichtiger waren die eigenartigen religiösen und politischen Rahmenbedingungen in Kurbrandenburg, dessen erste und lange Zeit einzige Landesuniversität die Viadrina war. Das wohlverstandene Interesse der brandenburgischen Politik war mehr auf die Öffnung der Universität zu den slawischen Völkern gerichtet, mehr auf das Gespräch und die Aussöhnung der Konfessionen, als auf orthodoxe Abschottung.

Die Geschichte der alten Viadrina enthält so reiche, in ihrem ganzen Umfang erst noch zu erforschende Traditionen mittel-und osteuropäischer und speziell deutsch-polnischer Wissenschaftsbeziehungen. Günter Mühlpfordt, Othmar Feyl und Konrad Grau haben in der Tradition der Forschungen Eduard Winters dieses Kapitel deutsch-slawischer Wissenschaftsbeziehungen untersucht und gewürdigt. Auf ihren Forschungen beruht der nachfolgende Überblick vor allem.

2. Umfang und Gliederung der Zuzügler

Die Matrikel weist einen ziemlich gleichbleibenden Anteil osteuropäischer Studenten während der ganzen Geschichte der alten Viadrina aus. Einen deutlichen Gipfel erreichte der Zustrom nach Frankfurt während der Glaubenskriege des 17. Jahrhunderts, um sich im 18. Jahrhundert wieder auf die Größenordnung des 16. Jahrhunderts einzupendeln. Annähernd 5% aller Immatrikulierten kamen stets aus den slawischen und ungarischen Ländern. Die aus Polen stammenden überwogen alle anderen Gruppen, sie umfaßten insgesamt etwa 1500 Personen.

Die Karte des Einzugsbereiches der Viadrina, die Christoph Römer vorlegte, spiegelt gerade den osteuropäischen Zuzug nicht angemessen wider. Das mag wohl an dem Stichprobenverfahren liegen, dessen Fehlertoleranz gerade die schwach besetzten Herkunftsregionen verzerrt wiedergibt. Eine intensive biographische Forschung wird wahrscheinlich die Anteile polnischer Studenten noch erhöhen. Die Angaben von Namen und Herkunftsorten in der Matrikel erlauben ja eine nationale Zuweisung nur mit Fragezeichen. Gerade im schlesischen und preußischen Raum können dies kaum mehr als Anhaltspunkte sein. Die Aussage von Kliesch, daß die Studenten aus den schlesischen Städten bis auf einzelne greifbare Ausnahmen aus der deutschen Bevölkerung kamen, scheint mir eher eine Hypothese. Solche Vermutung macht biographische Forschungen nicht überflüssig, sondern provoziert sie.

Stützen wir uns auf die von Feyl ermittelten Zahlen, ergibt sich das Bild einer stabilen, drei Jahrhunderte dauernden Beziehung zwischen der Oder-Universität und dem protestantischen Osteuropa. Frankfurt unterschied sich damit von der Mehrzahl der deutschen Universitäten, die im 18. Jahrhundert mit dem Aufstieg des Absolutismus zu Landesuniversitäten schrumpften. Auch die berühmte Rivalin in Wittenberg mußte solchen Abstieg in die Provinzialität hinnehmen, wie die Matrikelkarten deutlich zeigen.

Die Gründe solch stabilen Einzugsbereiches der Viadrina erklären sich teilweise aus der Expansion des brandenburgischen Staates weit in polnisches Gebiet hinein. Sie sind jedoch gleichermaßen aus der komplizierten Religionsgeschichte der Frühneuzeit, die diese Universität im ostmitteleuropäischen Grenzgebiet zum Mittler insbesondere der reformierten Glau- bensgemeinschaften Ost- und Westeuropas werden ließ.

Dies erklärt die Rolle der Theologen. Aus Polen und dem weiteren Osteuropa kamen vor allem Theologiestudenten nach Frankfurt. Erst im 18. Jahrhundert kamen Juristen und Mediziner in größerer Zahl, die eine Anstellung im Staats- und Militärdienst anstrebten. Die Konturen der Landesuniversitäten werden hierin auch in Frankfurt sichtbar. Die Geschichte der polnisch-deutschen Wissenschaftsbeziehungen an der Viadrina ist also wesentlich ein Teil der europäischen Kirchen- und Religionsgeschichte.

Fünf Gruppen protestantischer Theologen kamen aus Polen nach Frankfurt, die nach ihrer sozialen Zugehörigkeit, nach nationaler Herkunft und Glaubensbekenntnis deutlich unterschieden waren:

  1. Protestantische, überwiegend kalvinistische Adlige aus Kleinpolen. Sie kamen aus den Distrikten Krakau, Sendomir und Lublin.
  2. Kleinadelige Protestanten aus dem mit Polen vereinigten Großfürstentum Litauen, also aus den Distrikten Wilna, Transwilna, Samogitien und Weißrußland.
  3. Protestanten der Böhmisch-Mährischen Brüder-Unität, die im 16. und 17. Jahrhundert in zwei großen Wellen nach Großpolen emigriert waren. Ihr Zentrum war Lissa (Leszno). Alle Senio- ren der großpolnischen Brüder-Unität und die Direktoren des von den Brüdern initiierten Lissaer Gymnasiums haben in Frankfurt studiert.
  4. Die mehrheitlich deutschen Lutheraner aus den Städten Großpolens und des königlichen Preußen. Henryk Rietz weist am Beispiel der Toruner Studenten der Viadrina den Einfluß nach, den auch die wenig bekannten Absolventen in ihren Heimatorten als Prediger und Gymnasiallehrer gehabt haben.
  5. Eine letzte und kleinste Herkunftsgruppe bilden die polnischen Arianer (oder Polnischen Brüder) aus Groß- und Kleinpolen. Mehrere ihrer bedeutendsten Vertreter haben in Frankfurt studiert. Nach ihrer Vertreibung aus Polen im Gefolge des Warschauer Reichstagsbeschlusses von 1658 haben sie auch in der Mark Brandenburg und in Pommern Exulantengemeinden be- gründet, so die Kolonie Neudorf im Kreis Zossen.

Frankfurts Anziehungskraft war also auf das protestantische Polen gerichtet. Für das katholische Polen blieb die Universität Krakow klar bevorzugt. Nach der zweiten polnischen Teilung faßte der preußische Staat den Plan zur Errichtung einer katholischen Fakultät an der Viadrina. Dies geschah mit Blick auf die mehrheitlich katholische polnische Bevölkerung Groß- und Kleinpolens und Schlesiens, die eine Universität im preußischen Staatsgebiet besuchen sollte. Der Plan kam wegen der Dislokation der Viadrina nicht mehr zur Ausführung. Oder genauer gesagt, man wird die Dislokation der Universität nach Breslau als die Verwirklichung dieses Planes betrachten müssen.

Nicht alle, die nach Frankfurt kamen, absolvierten dort ihr ganzes Studium. Die Oder-Universität war für viele Durchgangsstation zu den lutherischen und reformierten Universitäten des inneren Deutschland und Westeuropas, vor allem Hollands und Englands. Feyl bezeichnete den Weg der Osteuropäer von der Viadrina an die westeuropäischen Universitäten deshalb als einen Weg vom Abgewandelten zum Eigentlichen. Die zahlreichen Beinamen der Viadrina wie „Amsterdam des Ostens“, „zweites Heidelberg“ sprechen für diese Einschätzung. Dagegen setzt Mühlpfordt die eigenständige Prägung der Frankfurter Universität, die unter den besonderen Bedingungen kurbrandenburgischer Staatspolitik ein ausnehmend hohes Maß an Rationalität, religiöser Indifferenz und Toleranz entwickelte. Dieser Widerspruch weist auf eine Aufgabe vertiefter Universitätsgeschichtsforschung hin.

In welchem Verhältnis stand der Zuzug nach Frankfurt zu dem nach anderen deutschen Universitäten? Die Wahl des Universitätsortes war natürlich von der geographischen Nähe abhängig. Während die weitaus meisten Opoler Studenten nach Frankfurt gingen, zog es doppelt soviel Toruner nach Königsberg, wie nach Frankfurt. Aber auch ganz nahrhafte Vorlieben spielten eine Rolle. Die Präferenz der königlich-preußischen Lutheraner für Königsberg wurde noch von dem Zug nach Leipzig übertroffen, wo es spezielle Stiftungen für die Toruner gab.

Vergleichende quantifizierende Untersuchungen für ganz Polen fehlen noch. Ersatzweise können wir die Zahl der Schlesier in Wittenberg und Frankfurt betrachten. Eine von Ludwig Petry betreute Dissertation von Gottfried Kliesch aus dem Jahre 1960 zeigt Frequenzschwankungen,die nicht von Entfernung und Freitischen beeinflußt waren, sondern deutlich von der jeweiligen geistigen Blüte der Universitäten zeugen. Deshalb sei im folgenden der Blick auf die Perioden der Viadrina gerichtet, die auch Perioden der deutsch-polnischen Wissenschaftsbeziehungen an der Oder-Universität waren.

3. Die Ausstrahlung nach Osten im Wechsel der Zeiten

3.1. Während der Reformation

Die erste kurbrandenburgische Universität entstand 1506 als Konkurrenz zu Wittenberg, als Trutz-Wittenberg. Und wie das vier Jahre zuvor im ernestinischen Sachsen entstandene Wittenberg war es eine Gegengründung zum altehrwürdigen Leipzig, das bisher die Studenten aus dem ganzen mittel-ostdeutschen Raum an sich gezogen hatte. Die engen Beziehungen der brandenburgischen Kurfürsten zum albertinischen Sachsen bestimmten schließlich das Profil der Neugründung. Das Trutz-Wittenberg an der Oder wurde zum Neuen Leipzig. Nicht nur der erste Rektor Wimpina kam aus Leipzig, auch etliche Einrichtungen wurden übernommen. Dazu zählte die Gliederung in Nationen, darunter eine Polnische Nation; und die herausragende Ausstattung und Bedeutung der Artistenfakultät. Beides könnte nun in der neuen Viadrina aufleben.

Unter Joachim I. war die Viadrina ein Hort des Widerstandes gegen die Reformation, wie es der kurfürstlichen Politik entsprach. Dies wurde in der Literatur immer wieder dem Rektorat Wimpinas angelastet. Dieser war zwar, wie Mühlpfordt und Targiel in jüngster Zeit mehrfach betonten, kein antihumanistischer Scholastiker, aber doch ein kräftiger Konservativer. Die Dominikaner, die ärgsten Feinde Luthers, beeinflußten das Klima in Frankfurt. Der Ablaßkrämer Tetzel war ein Wimpina-Schüler. Der Glanz der neuen Universität verblaßte deshalb rasch vor der innovativen Blüte Wittenbergs und des lutherischen Neuhumanismus dort. Deshalb beobachten wir am Rückgang der Frequenten ein rasches Erlahmen der Anfangsbegeisterung für die Viadrina, eine eindeutige Bevorzugung des lutherischen Zentrums Wittenberg.

Erst mit dem Regierungsantritt Joachim II. im Jahre 1535 begann die Reformation in Brandenburg. Da hierbei die Anhänger Melanchthons dominieren, stand die Viadrina wiederum im Gegensatz zu Wittenberg. Der Geist Melanchthons wirkte segensreich. Er war stärker rationalistisch als das sich formierende orthodoxe Luthertum. Den Wissenschaften aufgeschlossen, nicht nur der Theologie, sondern auch der Philosophie, der Staatskunst und der Medizin zugewandt, erlebte die Frankfurter Universität in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine erste Blütezeit. Mühlpfordt stellte fest, daß die Viadrina um 1600 mit an der Spitze der europäischen Universitäten stand. Als eine der drei meistbesuchten deutschen Universitäten nach Leipzig und Wittenberg erreichte es damals seine höchsten Immatrikulationsziffern zwischen 400 und 500 Einschreibungen jährlich.

Zahlreiche polnische Studenten kamen in dieser Zeit nach Frankfurt. Und dies geschah relativ unabhängig von der Konfession, da auch der polnische Adel noch der Reformation zugetan war. Mehr als 400 polnische Adlige waren in dieser Periode in Frankfurt immatrikuliert. Die Viadrina erwarb sich einen weiteren Beinamen: das brandenburgische Krakau.

Darunter befanden sich Stanislaus Koscielski und sein Bruder Lukas. Lukas wurde später katholischer Bischof in Poznan, Stanislaus wurde 1559 zum Ehrenrektor der Viadrina berufen. Die Brüder Andreas und Petrus Czarnkowski erhielten 1569 bzw. 1570 das gleiche hohe Amt. Andreas Czarnkowski wurde später der Gegenreformator des Posener Landes. Diese Karrieren mögen für das überkonfessionelle, tolerante Klima an der Oder-Universität stehen. Es ist bezeichnend für die enge, deutschnationale Geschichtsschreibung, die im 19. Jahrhundert herrschend wurde, daß diese Ehrenrektorate ausländischer Wissenschaftler in den späteren Schriften über die Viadrina keine Erwähnung mehr fanden.

Daneben sind bedeutende polnische Protestanten zu nennen. Andrzej Volanus, theologisches Haupt der Kalvinisten Litauens und Kämpfer gegen den Jesuitismus in Polen, war 1544 in Frankfurt immatrikuliert. Daniel Mikolajewski, Senior der Kalviner und der Brüder-Unität in Kujawien und Mitübersetzer der Danziger polnischen Bibel, war 1581 hier immatrikuliert. Christoph Arciscewski, immatrikuliert 1608, bedeutender Heerführer und Admiral erst in holländischen, dann in polnischen Diensten.

3.2. Kalvinistische Universität im Zeitalter der Glaubenskriege

Die kalvinistische Neuordnung der Oderuniversität geschah im Zeichen des Übertritts der Hohenzollern zum reformierten Bekenntnis. Dieser Glaubenswechsel erfolgte aus dynastischen Gründen, wegen des Erbes von Jülich-Kleve. Es handelte sich somit eigentlich um einen obrigkeitlichen Willkürakt im Sinne des cujus regio, ejus religio. Schließlich ist auch diese Wendung kurbrandenburgischer Politik der Universität gut bekommen.

Ein anderer politischer Umstand kam hinzu, die Rekatholisierung der Universität Heidelberg nach der Schlacht am Weißen Berg. So verlor das bisherige kurpfälzische Zion seine Studenten aus dem reformierten Osteuropa. Beide Ereignisse machten die Viadrina zum ersten Anlaufpunkt der östlichen Kalvinisten. Die Oder-Universität wurde Neu-Heidelberg.

Doch nicht der Kalvinismus an sich verhalf der Universität zur Blüte. In Frankfurt setzte sich ein unorthodoxer Kalvinismus durch, eine irenische, auf Frieden und Ausgleich mit anderen protestantischen Religionen orientierte, unionistische Richtung. Der Grund war wiederum nicht höhere Moral, sondern Staatspolitik. In Brandenburg blieb ja der Kalvinismus die Religion des Hofes und der hohen Beamtenschaft. Die kurfürstliche Politik mußte auf Ausgleich zum Luthertum des Volkes und der adeligen Stände bedacht sein. Unionismus, Toleranz werden notwendig Staatsräson. Die vom König verordnete Union der protestantischen Kirchen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts zustande kam, bereitete sich langfristig auch im geistigen Klima Frankfurts vor.

Diese unionistische Richtung der kalvinischen Ireniker entspricht genau der Situation der Reformierten in Polen und im übrigen östlichen Europa. Dort lebten sie mit Lutheranern und anderen protestantischen Gruppen in einer Verfolgungsgemeinschaft, nicht in verkrusteten Landeskirchen. Daher erklärt sich der größte Zustrom nach Frankfurt im 17. Jahrhundert.

Die Beziehungen nach Holland und zu den englischen Hohen Schulen in Oxford und Cambridge gestalteten sich in dieser Periode besonders eng. Das „Amsterdam des Ostens“, wie Frankfurt genannt wurde, vermittelte die theologischen, philosophischen und staatsrechtlichen Innovationen der Zeit in das östliche Europa. Mathematiker und Leibärzte, die in den Niederlanden gebildet waren, trugen als Viadrina-Professoren den Cartesianismus an die Oder. Der Rationalismus der voraufgegangenen, von Melanchthon bestimmten, unorthodoxen Periode war ein guter Nährboden. Der Pantheismus Spinozas fand seine Propagandisten in Frankfurt ebenso wie die liberale Staatslehre des Hugo Grotius.

Aus der langen Reihe bedeutender Gelehrter dieser Periode seien drei genannt, die für diese europäische Vermittlerrolle stehen:

Der Professor für Theologie an der Viadrina, Johann Bergius, der 1609 in Cambridge zum Magister der Philosophie promoviert war. Er nahm gemeinsam mit seinem Frankfurter KollegenFriedrich Reichel am Thorner Religionsgespräch von 1645 teil. Diese Zusammenkunft von Kalvinern, Lutheranern und böhmischen Brüdern in Polen setzte einen Schlußstein für die erste Phase des protestantischen Unionismus in Polen. Bergius verfaßte darauf die Declaratio Torunensis, die bei den Reformierten in Brandenburg bis zur Union des 19. Jahrhunderts Bekenntnisschrift blieb.

Wohl der bedeutendste Vertreter des irenischen Frankfurter Kalvinismus war Samuel Strimesius. In Königsberg als Sohn eines holländischen Vaters und einer englischen Mutter geboren, hat er seine Studien an der Viadrina in Oxford und Cambridge fortgesetzt. Er war in seinen Bemühungen um Ausgleich zwischen den protestantischen Konfessionen von dem Beispiel der ökumenischen polnischen Protestanten beeinflußt. Mit seinem 1704 in Frankfurt publizierten Consensus Sendomiriensis erneuerte er den Konsens der polnischen Kalviner, Lutheraner und böhmischen Brüder, der bis zum Thorner Religionsgespräch gehalten hatte. Strimesius stellte dieses Dokument dem Aufruf des englischen Philosophen John Locke zur Toleranz an die Seite, dessen bahnbrechenden Brief von 1669 er publizierte.

Der dritte, bekannteste in dieser Reihe ist Daniel Ernst Jablonski, Comenius-Enkel und Hofprediger, Schutzherr der protestantischen Dissidenten Polen-Litauens. Er empfing bei der 200-Jahrfeier der Viadrina das Ehrendoktorat der Universität Oxford. Der berühmteste brandenburgische Hofprediger steht allerdings auch für den Weg vom demokratischen Sektierertum der Brüdergemeinden zum hochkirchlichen Konservatismus nach dem Vorbild der anglikanischen Episkopalkirche. Rudolf von Thadden hat gezeigt, wie dies für den elitären Kalvinismus der brandenburgischen Hofkirche charakteristisch war.

Die bleibende Leistung Jablonskis für Frankfurts Universität lag zweifellos in der Entwicklung der hebräischen Studien. Er gründete eine hebräische Druckerei in Frankfurt, die Schriften vor allem für die Judenschaft in Groß- und Kleinpolen druckte. Im Jahre 1699 erschien eine neue Ausgabe des Alten Testaments und 1715-1721 eine zwölfbändige Ausgabe des babylonischen Talmud. Jablonski borgte für diese Druckerei große Geldsummen aus der Kasse der polnischen Brüder-Unität, Schulden, die ihn bis zu seinem Tode bedrückten.

Unter den zahlreichen polnischen Studenten und den wenigen Dozenten seien auch für diese Periode einige in ihrem späteren Lebensweg bedeutende Persönlichkeiten genannt.

Ein Martinus de Ostrowski war im Jahre 1695 als Extraordinarius für Philosophie in der Matrikel verzeichnet.

Adam Samuel Hartmann, aus der exilierten Brüder-Gemeinde in Torun stammend, war 1649 in Frankfurt immatrikuliert. Später wirkte er als Lehrer Daniel Ernst Jablonskis und des späteren polnischen Königs Stanislaw Leszynski in Lissa. Auf seine Initiative gehen eine Reihe von Stipendien für osteuropäische Kalviner an der Viadrina zurück.

Georg Rekuc war 1698 immatrikuliert. Er wurde erster Prediger der 1701 begründeten polnisch-reformierten Gemeinde Königsbergs und Senior der Reformierten Samogitiens. Er machte sich einen Namen als Leiter der ersten polnischen Zeitung, der Wochenzeitung Poczta Królewiecka, die von 1718 bis 1720 in Königsberg erschien.

3.3. Die Zeit der Aufklärung

So wie der irenische Kalvinismus durch das rationalistische, an Melanchthon orientierte Luthertum der voraufgegangenen Periode vorbereitet wurde, begünstigte der unionistische Kalvinismus des 17. Jahrhunderts die frühe Entwicklung von Pietismus und Aufklärung an derViadrina. Rationalismus und Toleranz blieben Grundzüge der Oder-Universität. Diese erfreuliche Kontinuität war durch das politische Umfeld Kurbrandenburgs ermöglicht Sie war aber auch inzwischen durch die eigenen Traditionen der Universität und ihre Vermittlerrolle zwischen West- und Osteuropa kräftig verwurzelt.

Frankfurt hatte nun die Konkurrenz Königsbergs und der neugegründeten Hallenser Universität zu ertragen, war also nicht mehr einzige Landesuniversität. Die Viadrina trat aber mit dem pietistischen Halle in so lebhafte Wechselwirkung, daß es ihm den Beinamen eines Halle an der Oder eintrug. Gibt es eine Universität, die mehr solcher Epitheta auf sich vereint? Darf man das Schmeichelhafte dieser Vergleiche hervorheben, oder muß man den bitteren Beigeschmack betonen? Auch in der zweiten Reihe wurde vorzügliches geleistet.

Im Jahre 1727 erhielt die Viadrina zugleich mit Halle die ersten Kameralistik-Lehrstühle in Deutschland. Der Zusammenhang mit der neuen Behördenorganisation, des Staatswesens war unübersehbar. Die Schaffung des Generaldirektoriums, der volle Ausbau des absolutistischen Staatswesens erforderten eine qualifizierte Ausbildungsstätte der brandenburg-preußischen Beamten.

An der Juristenfakultät fand ein grotianisch beeinflußtes Naturrecht seine Heimstatt. Der große deutsche Staatsrechtslehrer Johann Jakob Moser wirkte ebenso einige Zeit als Professor an der Viadrina wie der Schöpfer der friderizianischen Justizreform Samuel Cocceji und später der Mitautor des Allgemeinen Landrechts Karl Gottlieb Svarez.

An der theologischen Fakultät schritt Gottlieb Töllner vom Wolffianismus der Frühaufklärung zur antidogmatischen Neologie und zum Deismus fort. Und sein Schüler Samuel Steinbart setzte sich während seiner langen Wirkungszeit in Frankfurt theoretisch und praktisch für eine aufgeklärte Reformpädagogik ein.

Das Klima in Frankfurt wurde nun weniger von der Theologischen Fakultät bestimmt. Auch unter den Studenten aus Polen waren anteilig weniger Theologen, mehr Mediziner, Juristen und Staatswissenschaftler. Viele von ihnen zeichneten sich nach ihren Studien wiederum in Wissenschaft, Kultur und Politik ihrer Heimat aus.

So studierte am Ende des 18. Jahrhunderts Zygmunt Kurnatowski Kameralistik in Frankfurt, der spätere Politiker und Wirtschaftsreformer des Großherzogtums Warschau. Der bedeutende polnische Ägyptologe Karol Godfryd Wojde war in Frankfurt ein Schüler des jüngeren Jablonski gewesen. Der bedeutende polnische Historiker Graf Edward Raczynski kam 1804 gemeinsam mit seinem Bruder, einem späteren preußischen Diplomaten, zum Jura-Studium an die Viadrina.

Zugleich widmeten sich Viadrina-Professoren der Vermittlung polnischer Kultur, Geschichte und Sprache in Deutschland. Die Frankfurter Gesellschaft der Wissenschaften und Künste von 1766 war hier besonders aktiv. Ihr Präsident, der Historiker und Direktor der Universitätsbibliothek Karl Renatus Hausen, berichtete nicht nur in den Frankfurter Zeitschriften Historisches Portefeuille und Nationalvorurteile ausführlich über die Fortschritte der Aufklärung in Polen und Rußland, sondern er veröffentlichte auch zwei größere Werke zur polnischen Geschichte.

Mitbegründer dieser Gesellschaft und späterer Prediger in Lissa war Johann Ludwig Cassius. Er hat 1797 in Berlin eine große polnische Grammatik für Deutsche publiziert: Lehrgebäude der polnischen Sprachlehre. Die kurz zuvor erfolgte dritte Teilung Polens bewegte sichtlich den Autor. Auch Lissa gehörte zu jenem Teil Polens, der nun als Südpreußen dem preußischen Staat einverleibt war. Cassius warnte im Vorwort vor Germanisierungsbestrebungen in den polnischen Landesteilen. Die Deutschen dürften ihren Nationalstolz nicht soweit treiben, die polnischeSprache unterdrücken zu wollen. Man könne dem Volk nicht so leicht seine Sprache nehmen, wie man dem Land den Namen genommen habe.

Brach diese Tradition aufklärerischen, emanzipatorischen, europäischen Geistes, die Tradition des deutsch-slawischen Austausches mit der Schließung der Frankfurter Universität 1811 ab? Ließ sie sich ins schlesische Breslau verpflanzen, wie ein Teil der Studenten und Professoren, wie die Bibliothek und das Archiv? Die Universität Breslau wurde zunächst der Ort, von dem der deutschnationale Befreiungskampf gegen Napoleon ausging, initiiert von dem dänischen Romantiker Heinrich Steffens.

Die neue Viadrina, die nun nach langer Pause am alten Ort entsteht, will sich all jener Traditionen entsinnen. Und wenn wir in diesem Geiste das 500 jährige Gründungsfest ins Auge fassen, das in einem Dutzend Jahren zu feiern sein wird, so werden innerhalb der Vorbereitungsarbeiten die Forschungen zu den deutsch-polnischen Wissenschaftsbeziehungen einen besonderen Platz erhalten.