Prof. Dr. Helga Schultz Wirtschafts- und Sozialhistorikerin

Publikationen

Transformationen: Das schwedische Modell und die Krise des europäischen Sozialstaats

1. Sozialstaatliche Transformation des Kapitalismus

Allerorten wird die Krise des Sozialstaats ausgerufen. Die Begründung liefert der dreifache Mythos der Globalisierung, des demographischen Wandels und der Erschöpfung der Staatshaushalte. Die Attacke begann in breiter Front im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts nach dem Zusammenbruch des staatssozialistischen Ostblocks und erreichte ihren Höhepunkt in der sogenannten Euro-Krise. Unter der Flagge von Reformen zerschlägt die Sparpolitik in den südeuropäischen Ländern den Sozialstaat. Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank, meinte in einem Interview mit dem "Wallstreet Journal" am 22. Februar 2012, der europäische Sozialstaat sei erledigt, die Europäer könnten es sich nicht mehr leisten, "jeden dafür zu bezahlen, dass er nicht arbeite" (The Wallstreet Journal, European Edition) (Download 12.08.2013). Doch der europäische Sozialstaat war nicht das Ergebnis der Fülle und des Überflusses eines vergangenen goldenen Zeitalters, wie denen, die von seinem Abbruch betroffen sind, unaufhörlich eingehämmert wird. Er gewann seine Gestalt während der dunklen Krisenzeiten zwischen den Weltkriegen, als es zeitweise in allen west- und nordeuropäischen Ländern sozialistische Regierungen oder Koalitionen gab. Pierre Bourdieu deckte den gegenrevolutionären Charakter dieser Angriffe auf: "Diese konservative Revolution neuen Typs nimmt den Fortschritt, die Vernunft, die Wissenschaft (in diesem Fall die Ökonomie) für sich in Anspruch, um eine Restauration zu rechtfertigen, die umgekehrt das fortschrittliche Denken und Handeln als archaisch erscheinen lässt." (Bourdieu 1998, S. 54)

Diese konservative Revolution will jene Transformation des Kapitalismus rückgängig machen, die im 20. Jahrhundert vom Reformsozialismus mit dem Sozialstaat vollbracht wurde. Erst nachdem die lohnarbeitenden Massen mit ihren Parteien das allgemeine, gleiche Wahlrecht errungen hatten, erreichten sie mit dem Sozialstaat die Integration in die moderne Gesellschaft. Der Sozialstaat war nicht die Arbeitermacht, aber die weitgehende Erfüllung der Hoffnungen und Sehnsüchte auf ein menschenwürdiges Leben, mit denen die Lohnarbeiter am Ausgang des 19. Jahrhunderts zum Kampf für ihre Rechte aufgebrochen waren. (Korpi, Esping-Andersen 1984; Ritter 1991; Eichenhofer 2007; Schmidt et al. 2007; Schmid 2010, S. 85–98). Der Sozialstaat war eben keine bloße Korrektur von Marktversagen, keine Kompensation für verlorene Fürsorgeleistungen vormoderner Gilden und Gemeinden. Einsichtsvolle Politiker, konservative eher als liberale, haben die Unabwendbarkeit und den Nutzen dieser Integration der Arbeitermassen stets begriffen. Aber dass der Sozialstaat keine originäre Schöpfung von Konservativen wie Otto von Bismarck, Theodore Roosevelt und Ludwig Erhard ist, sondern nur unter dem massiven Druck der Arbeiterbewegung erreicht und gegen harten Widerstand ausgestaltet wurde, steht außer Zweifel. Die Namen reformsozialistischer Sozialpolitiker der Zwischenkriegszeit - wie der Briten Beatrice und Sidney Webb, des Österreichers Ferdinand Hanusch, des Deutschen Rudolf Wissell und der Schweden Alva und Gunnar Myrdal - sind zu Unrecht aus dem öffentlichen Bewusstsein gefallen. Mit ihnen geriet eine Tradition sozialistischer Politik weitgehend in Vergessenheit, die sich eben nicht aus dem amerikanischen "New Deal" herleitete, jenem wenig nachhaltigen staatlichen Krisenmanagement, das gefahrlos für die Herrschenden war.

Der Sozialstaat zielt hingegen auf eine politische und gesellschaftliche Transformation, die Macht und Ressourcen umverteilt; Umverteilung steht im Zentrum als Bedingung der Demokratie.Thomas Marshall nannte es schon 1950 Aufgabe des Wohlfahrtsstaats, die sozialen Staatsbürgerrechte zu sichern. (Marshall 1992, S. 33) Esping-Andersen sah es als zentrales Problem der Demokratie, "ob und unter welchen Bedingungen die Klassenspaltungen und sozialen Ungleichheiten, die der Kapitalismus hervorgebracht hat, durch die parlamentarische Demokratie aufgehoben werden können". (Esping-Andersen 2007, S. 11) Die unterschiedlichen Annäherungen folgten nationalen Entwicklungspfaden, hingen aber vor allem vom Verhältnis der Klassenkräfte, mithin primär von der Stärke der sozialistischen Bewegungen ab. Entsprechend unterschied Esping-Andersen drei Welten des Sozialstaats: die liberale, die den Marktkräften freies Spiel lässt und nur Bedürftigkeit ausgleicht, der er die USA, Kanada und Australien zuordnete; die konservative, die mit ständisch gegliederten Versicherungssystemen soziale Ungleichheiten konservierte, zu der er Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien rechnete; und schließlich das sozialdemokratische Regime der skandinavischen Länder mit ihrem einheitlichen, Arbeiter und Mittelklasse umfassenden System, das gegen die Marktkräfte den Lebensstandard wahre und darum die Leistungen am Einkommen orientierte.

Allerdings weckt die Reihung im einzelnen Widerspruch. Beispielsweise haben weder der französische noch der deutsche Sozialstaat vorwiegend konservative Wurzeln. In Frankreich waren die Koalitionsregierungen unter Einschluss oder Führung der Sozialisten seit der Wende zum 20. Jahrhundert die Architekten des Sozialstaats. Und auch der deutsche Sozialstaat schreibt nicht "Hitlers Volksstaat" fort, der die Gewerkschaften ausschaltete, und er ist nicht Schöpfung der christlichsozialen Regierungen der Adenauer-Ära, sondern er knüpfte institutionell an die Sozialpolitik der Weimarer Republik an. Esping-Andersens einflussreiche Klassifikation führt außerdem in die Irre, wenn sie drei gleichberechtigte Typen des Sozialstaats suggeriert. Der "liberale" Typ ist ein Fürsorgestaat, eine sozialstaatliche Transformation mit Machtbeteiligung der Lohnarbeiterorganisationen und sozialer Umverteilung hat nicht stattgefunden. Der "konservative" Typ ist Ergebnis einer unvollständigen sozialstaatlichen Transformation. Nur der "sozialdemokratische" Typ steht tatsächlich dafür.

Die "konservativen" und "sozialdemokratischen" Welten Esping-Andersens nähern sich, wo die sozialen Sicherungssysteme lebensstandardsichernd und deshalb einkommensbezogen waren. Korpi und Palme sehen darin eine wesentlich Unterscheidung in Bezug auf das Gleichheits-Ziel des Sozialstaats. Der Sozialstaat muss auf Gleichheit und nicht auf Armutsbekämpfung zielen, soll er die sozialen Staatsbürgerrechte und damit die Grundlagen der Demokratie sichern. Gleichheit wurde nirgendwo erreicht, aber um 1985 wiesen die Länder mit einkommensorientiertem Sozialsystem signifikant geringere Einkommensungleichheiten und Armutsraten auf, als solche mit Grundsicherung auf dem Niveau des Existenzminimums. Solche Systeme armutverhütender Grundsicherung konservieren ebenso wie an Bedürftigkeit geknüpfte Leistungen Armut und Ungleichheit. Sie verschärfen die sozialen Gegensätze, da sich die Mittelschicht in private Versorgungssysteme verabschiedet, während die Lohnarbeiter darin gefangen bleiben. ( Korpi, Palme 1998) (Tab. 1)

Für die Wahrung der sozialen Bürgerrechte ist die nachhaltige institutionelle Verankerung von Arbeitnehmerrechten wesentlich. Werner Abelshauser legt gerade am deutschen Beispiel polemisch dar, wie Mitbestimmung und institutionalisierter Interessenausgleich die europäische Wirtschaftskultur von jener der USA unterscheiden. (Abelshauser 2003, S. 1-5; 59 f.; 99) Die gleichgewichtige Aushandlung von Arbeitslöhnen und Arbeitsbedingungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden unter staatlicher Aufsicht und Garantie und die Selbstverwaltung der Sozialversicherung konstituieren den Neo-Korporatismus als Kern des modernen Sozialstaats. (Schmitter 1981; Stråth 1996, S. 10–12; Schmitter, Grote 1997; dagegen: Beyme 1983) Die Europäische Sozialcharta hat das Recht der Arbeitnehmer auf Zusammenschluss und kollektive Verhandlungen 1961 festgeschrieben, wenn dies auch mit mancherlei Vorbehalten versehen und nicht in allen Ländern ratifiziert ist. (Council of Europe 1961) Man wird nur dort von einer sozialstaatlichen Transformation des Kapitalismus sprechen können, wo die sozialen Rechte aller Bürger durch eine über die Bedürftigkeitsfürsorge hinausgehende lebensstandarderhaltende Sicherung gewahrt und die korporative Verhandlungsmacht der Lohnabhängigen institutionalisiert ist. Nur soweit die sozialen Bürgerrechte gesichert sind, ist es auch die Demokratie.

Der Neo-Korporatismus von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden im Sozialstaat unterscheidet sich wesentlich von dem völkischen oder ständischen Korporatismus, wie ihn die faschistischen und autoritären Staaten in Mittel-, Ost- und Südeuropa in der Zwischenkriegszeit installierten. Der autoritäre Korporatismus beruhte auf einer organischen Staatsauffassung, die Klassengegensätze zum Verschwinden bringen wollte, indem sie die Interessen der Arbeiter im Namen des nationalen Gesamtinteresses unterdrückte. Damit stellte er sich auf die Seite des Kapitals, das freie Bahn für seine Profitinteressen erhielt - letztlich um den Preis des Untergangs. Der von den Gewerkschaften getragene Neokorporatismus transformierte den marktwirtschaftlichen Kapitalismus zum Sozialstaat und diente damit tatsächlich dem nationalen Gesamtinteresse; denn er sicherte damit den sozialen Frieden, den demokratischen Konsens und den Wirtschaftsaufschwung der kapitalistischen Staaten Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Schweden ist der Prototyp dieses sozialdemokratischen Neokorporatismus. Nirgendwo entfaltete sich der Sozialstaat so ungestört durch Kriege und politische Umbrüche wie in Schweden. Das schwedische Modell soll deshalb hier einer näheren Betrachtung unterzogen werden, um auch die Ursachen der gegenwärtigen Krise dieses europäischen Gesellschaftstyps besser verstehen zu können.

2. Das schwedische "Volksheim"

In Schweden haben besondere Verhältnisse geherrscht – wie überall. Der Sozialstaat ging hier aus der Verflechtung eines nationalen und eines sozialen Diskurses hervor, auch dies ähnlich wie überall. Schwedische Forscher heben begünstigende historische Bedingungen hervor, die den nationalen Integrations-Diskurs bestärkt haben: Das traditionelle Bündnis der Krone mit der Bauernschaft gegen die Aristokratie, die Selbstverwaltungstradition, die Schwäche des Großbürgertums, die lutherische Volkskirche und die Freikirchen. (Trägårdh, Rothstein 2007; Stråth 1996, S. 74-76) Vor allem aber hatte die Amerikaauswanderung der notleidenden Landbevölkerung, die in Schweden mit einem Fünftel der gesamten Bevölkerung entschieden über dem europäischen Durchschnitt lag, schon vor dem ersten Weltkrieg Konservative und Liberale in Sorge über drohenden Arbeitermangel versetzt. Das Nachdenken über ein „Volksheim“, das allen Schweden Lebenschancen bieten könnte, setzte schon um die Wende zum 20. Jahrhundert ein. (Stråth 1996, S. 77-80; Stråth 1995; Trägårdh, Rothstein 2007) Den entscheidenden Schritt zum "Volksheim" als schwedischem Sozialstaat ging jedoch die Sozialdemokratie. Per Albin Hansson, der Vorsitzende der Partei, entriss die Metapher in einer denkwürdigen Rede 1928 dem konservativen Diskurs und markierte so die Wende von der Klassenkampfrhetorik zur Bündnispolitik gegenüber Liberalen und Bauernpartei. Hansson forderte soziale und ökonomische Demokratie, nur so könne die Nation als Heim aller Schweden geschaffen werden:

"Solange die ökonomische Macht in den Händen einiger weniger liegt, solange wird das Volk über keine effektive Kontrolle über die für seinen Wohlstand wichtigen Produktionsmittel verfügen, solange hat die politische Demokratie es nicht vermocht, sich zu einer sozialen und ökonomischen Demokratie zu entwickeln, die die Voraussetzung dafür ist, dass man behaupten kann, Schweden gehört allen Schweden." (Zitiert: Henze 1999, S. 31–40)

Das war keine Kapitulation, es war ein Programm. Das soziale Programm konnte in dieser Zeit, die die Hochzeit des Nationalstaats und des Nationalismus in Europa war, nur als nationales Programm daherkommen. Und die Nation hatte im Allgemeinen ethnische, völkische Gestalt. Es ist historisch erklärlich, dass in Schweden ebenso wie gleichzeitig in Deutschland die völkische Rhetorik dominierte. Aber in Schweden wurde sie von den Sozialdemokraten okkupiert und gewann deshalb einen demokratischen Inhalt, während sie in Deutschland durch die Nationalsozialisten zu einem aggressiven, rassistischen Gebrauch verkam. (Trägårdh 1990) Das schwedische Volksheim wollte die Klassengegensätze nicht unter den Teppich kehren, sondern ihre demokratische Aushandlung ermöglichen. Das war nur durch die Stärkung der Lohnarbeiterseite mit der Verhandlungsmacht ihrer Gewerkschaften möglich.

Ende der zwanziger Jahre wuchs der soziale Druck auch im schwedischen Kessel. Die Arbeiter der Eisenindustrie lebten großenteils in ländlichen Industriesiedlungen unter dem patriarchalischen Kommando des Unternehmers. Die elenden Bedingungen erschwerten die Familiengründung. Dessen ungeachtet hatten die Gewerkschaften seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert festen Fuß gefasst und die Sozialdemokratie gewann von Wahl zu Wahl Stimmen. Schweden wurde zum Land besonders heftiger und häufiger Arbeitskämpfe. In Schweden gingen den Unternehmern doppelt bis dreimal so viele Arbeitstage durch Streiks verloren, wie im europäischen Durchschnitt. (Stråth 1996, S. 97) Im Mai 1931 setzte die konservative Regierung Militär gegen Arbeiter ein, die gegen Streikbrecher demonstrierten. Die Schüsse von Ådalen mit mehreren Toten erbitterten die Arbeiter im ganzen Land. (Peters 1975, S. 108 f.) Sie waren zwar eine Minderheit im immer noch bäuerlichen Schweden, doch bei den Reichstagswahlen im folgenden Jahr erreichten die Sozialdemokraten eine relative Mehrheit. Per Albin Hansson konnte gemeinsam mit der Bauernpartei eine Regierung bilden; der Weg zum institutionellen Umbau Schwedens in ein demokratisches Volksheim war frei.

Den ersten Schritt tat die neue Regierung im sogenannten "Kuhhandel" mit der Bauernpartei. Der Koalitionspartner erhielt umfassende Preisgarantien für Agrarprodukte und stimmte dafür einer Arbeitslosenversicherung zu, die Leistungen in Höhe der marktüblichen Löhne vorsah. Die Besonderheit dieser neuen Institution war, dass die Verwaltung den Gewerkschaften übertragen wurde und die staatlich garantierten Leistungen an die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft gebunden waren. Dadurch erreichten die schwedischen Gewerkschaften einen beispiellos hohen Organisationsgrad und gewannen ihre besondere Stärke. Das Abkommen von 1938 in dem Kurort Saltsjöbaden zwischen dem Zentralverband der Gewerkschaften (LO) und dem Unternehmerverband (SAF) vollendete diese Macht. Die Gewerkschaften sagten dort zu, den Arbeitsfrieden zu wahren, während die Unternehmer einwilligten, Tarifvereinbarungen an der jeweiligen Obergrenze der Marktlöhne zu schließen. Diese "solidarische Lohnpolitik" wurde die materielle Grundlage des schwedischen Volksheims. Da das Arbeitslosengeld sich an den Marktlöhnen orientierte, verlor die Arbeitslosigkeit ihren Schrecken. Staatliche Arbeitsprogramme nach keynesianischem Muster und eine durch Steuern finanzierte Umschulung von freigesetzten Arbeitern aus alten Zweigen wie der Textilindustrie in neue Industrien sorgten dafür, dass die Arbeitslosigkeit allmählich zurück ging.

Die schwedische Sozialdemokratie blieb für vier Jahrzehnte ununterbrochen an der Macht, viel Zeit, eine sozialstaatliche Transformation zu vollenden. In diesen Jahrzehnten wandelte sich die Sozialdemokratie von der Opposition zur staatstragenden Partei, die sich selbst als Arzt am Krankenbett des Kapitalismus und Verteidiger der schwedischen Nation sah. (Stråth 1996, S. 88- 97:93 f.) Die regierenden Sozialdemokraten strebten niemals die Verstaatlichung von Unternehmen an, auch nicht in den Schlüsselindustrien. Schweden blieb ein kapitalistisches Land. Der Lebensstandard der Arbeiter hob sich, der Massenkonsum begann sich zu entwickeln. Die Industriellen hatten freie Hand für Rationalisierungen und konnten die Profite – begünstigt durch Kriegs- und Nachkriegskonjunktur - beträchtlich steigern. Schweden wurde zum Musterland des sozialen Friedens, zum Hochlohnland und zum Hochsteuerland. (Hancock 1977, S. 112 f.; Stråth 1996, S. 88-97) Und gegen jedes marktwirtschaftliche Credo erreichte es ein beeindruckendes, beispielhaft stabiles Wirtschaftswachstum, das während des "Goldenen Vierteljahrhunderts" von 1950 bis 1974 jenes der USA entschieden übertraf. Im Jahr 1974 stand Schwedens Bruttoinlandsprodukt pro Kopf unter allen westlichen Industrieländern an zweiter Stelle. (Hancock 1977, S. 116)

Es wurde sichtbar, dass der Sozialstaat mit Neokorporatismus und Umverteilungspolitik soziale Bürgerrechte sichern und Ungleichheit mildern konnte, aber das Ziel der Gleichheit weit verfehlen musste. Die Arbeiter und ihre Gewerkschaften gaben sich damit nicht zufrieden. Die Unternehmensgewinne waren ohnehin trotz hoher Steuern beträchtlich stärker als die Löhne expandiert. Infolge der "solidarischen Lohnpolitik" lagen die Löhne der führenden Industrien - damals vor allem des Maschinenbaus und der Automobilindustrie - unter den Produktivitätsfortschritten, die Unternehmer in diesen Branchen erwirtschafteten also Extraprofite. Die Gewerkschaften brachten deshalb 1973 den Vorschlag ein, einen Anteil der Gewinne in Lohnarbeiterfonds unter gewerkschaftlicher Verwaltung abzuführen, um so kollektives Miteigentum der Arbeiter zu begründen: "Das wird ein gründlicher Umbau der Gesellschaft. Wir wollen den alten Kapitalbesitzern die Macht nehmen, die mit dem Eigentum einhergeht. Alle Erfahrung deutet darauf hin, dass Einflussnahme und Kontrolle nicht ausreichen. Das Eigentum spielt eine entscheidende Rolle." (Zitiert: Rosenberg 2013, S. 38) Das ging in der Tat über eine sozialstaatliche Transformation innerhalb des Kapitalismus hinaus, hin zu einer sozialistischen Transformation. Die Empörung des Mitte-Rechts-Lagers schlug hohe Wellen, große Arbeiterdemonstrationen für das Gewerkschaftskonzept vermochten nichts dagegen. Bevor die Regierungskommission, die 1976 eingesetzt wurde, ihre Arbeit aufnehmen konnte, war die sozialdemokratische Regierung durch eine konservative Koalition für einige Jahre von der Macht verdrängt. (Stråth 1996, S. 99 f.) Den "Systemwandel" weg vom Sozialstaat, den die Konservativen anstrebten, erreichten sie nicht; gegen den damals noch intakten nationalen Konsens war er nicht durchsetzbar.

3. Alva und Gunnar Myrdal - der Traum von der planmäßigen Transformation

Das schwedische Volksheim ist mit der Idee einer planerischen Sozialpolitik verbunden, die recht zutreffend als social engineering bezeichnet worden ist. Alva und Gunnar Myrdal hatten daran wesentlichen Anteil. Beide waren 1929/30 zu Studien in den USA gewesen und von den ungeheuerlichen sozialen Gegensätzen dort zutiefst erschüttert. Schärfer blickten sie danach auf das eigene Land: "Obwohl wir keine Slums im amerikanischen Sinne hatten, lebte zu Beginn dieser Ära mehr als die Hälfte aller Familien in den schwedischen Städten in Zwei- Zimmerwohnungen oder in noch beengteren Quartieren. Es gab Bevölkerungsgruppen, die aus Armut unterernährt waren; das Schulsystem verhalf breiten Massen nur zu einer unzureichenden Grundschulbildung; Gesundheitsvorsorge und ärztliche Betreuung waren nichtfür die Menschen aller Einkommensschichten frei zugänglich. Diesen Mängeln der sozialen und ökonomischen Ordnung entsprach die Tatsache, dass die direkten Steuern auf Einkommen und Vermögen damals niedriger waren, als sie es in den Vereinigten Staaten heute immer noch sind." (Myrdal 1974, S. 19 f.)

Zurückgekehrt trat Gunnar Myrdal in die Sozialdemokratische Partei ein und stellte sich der neugewählten Regierung als Berater zur Verfügung. Die Maßnahmen, die er mit seinen Memoranden unterstützte, lagen auf derselben Linie wie die von John Maynard Keynes empfohlenen und dann im amerikanische "New Deal" umgesetzten. Für Myrdal stand jedoch nicht die Wiedergewinnung des monetären und ökonomischen Gleichgewichts im Zentrum, sondern die Überwindung sozialer Ungleichheit. Myrdal betonte stets seine Prägung durch das Gleichheitsideal der Aufklärung, durch den sozialen Liberalismus John Stuart Mills und durch die "Stockholmer Schule" der Nationalökonomie, speziell durch Knut Wicksell. Es war und blieb seine tiefe Überzeugung, dass nicht nur Gleichheit und Freiheit kein Widerspruch seien, sondern auch Gleichheit und wirtschaftliches Wachstum zusammengingen. (Myrdal 1961, S. 22-32 ) Manche Forscher meinen, wenn seine frühen Arbeiten zur Gleichgewichtstheorie gleich in englischer Sprache erschienen wären, hätte man vielleicht statt von einer Keynesianischen von einer Myrdalianischen Revolution gesprochen. (Angresano 1997, S. 36; Barber 2008, S. XI, 42- 51)

Egalitäre Reformen waren deshalb nach eigenem Bekunden das Anliegen der Myrdals, als sie 1934 gemeinsam ein geradezu alarmistisches Buch zur Bevölkerungspolitik schrieben. (Myrdal 1974, S. 18–21) Sie nahmen darin den Auswanderungsdiskurs auf und verschärften ihn, indem sie das Schreckbild eines fortschreitenden Bevölkerungsverlusts durch Verelendung der städtischen Arbeiter an die Wand malten. Die gerade heftig in Gang gekommene Urbanisierung führe zu Geburtenrückgang und somit erneut zu heftiger Schrumpfung des schwedischen Volkes. Nur durchgreifende Sozialreformen böten einen Ausweg, wenn sie den Arbeitern gute Wohnverhältnisse, hinreichende Mittel zur Ernährung und Kleidung ihrer Kinder, umfassende Gesundheitsfürsorge und volle Bildungschancen eröffneten.

Die Myrdals kehrten hier die Argumentation der Sozialdemokratie förmlich um: volle Rechte und Verbesserungen für die Arbeiter erscheinen nicht vordergründig als Ziel der Volksheim-Politik, sondern geradezu als Mittel zur Rettung der Nation. Wieweit dies nun wieder politisches Kalkül war, sei dahin gestellt. Bevölkerungspolitik, gründend auf entsprechenden Hysterien, lag im Trend der Zeit, die sich soeben der großen demographischen Transition von vormoderner hoher Sterblichkeit und Geburtlichkeit zu modernen, niedrigen Werten bewusst wurde. Offensichtlich gelang es den Myrdals mit diesem vielbeachteten Buch, die Bourgeoisie zu erschrecken; die Liberalen stimmten im Parlament umfangreichen sozialpolitischen Programmen zu. Schweden baute ein großenteils steuerfinanziertes Gesundheitswesen auf, in dem Vorsorge ein wesentliches Element war. Die Lebenserwartung erreichte infolgedessen langfristig europäische Spitzenwerte. Kinderbetreuungseinrichtungen von der Kinderkrippe über den Kindergarten bis zur Ganztagsschule realisierten die Grundsätze von Reformpädagogen. Hatte nicht die Schwedin Ellen Key mit ihrem europaweit gerühmten Buch "Das Jahrhundert des Kindes" ausgerufen? Alva Myrdal, die die Situation der Kinder, der Frauen und der Familien fortan zu ihrem besonderen Forschungs- und Politikfeld machte, knüpfte an diese liberale Reformpädagogik an und wendete sie in eine sozialdemokratische Pädagogik der Gleichheit. (Ekerwald 2000) Die Schweden, die um 1930 größtenteils nur eine vierjährige Grundschule besuchen konnten, erhielt schließlich eine allgemeine Sekundarschulbildung, die den Universitätszugang für jedermann ermöglichte. Alva und Gunnar Myrdal versammelten eine Schar von Experten hinter sich, die das VolksheimSchweden mit hellen Wohnungen, funktionalen Möbeln, wie sie noch heute nach den Bildern des Malers Karl Larsson IKEA-Kataloge prägen, mit öffentlichen Bildungs- und Kultureinrichtungen und mit moderner Infrastruktur ausstatteten. Gesundheitserziehung und pädagogische Propaganda waren allgegenwärtig.

Solches Social engineering ist mit gegenwärtigem individualistischem, liberalem Selbstverständnis nicht vereinbar und daher heftig in der Kritik. Die Gesundheitspropaganda zielte auf den perfekten "A-Schweden" und argumentierte somit im Einvernehmen mit dem Zeitgeist eugenisch. Auch in Schweden wurden Behinderte und "Asoziale" in diesem Ungeist zwangssterilisiert. (Etzemüller 2010) Das deutsche Massenverbrechen der Euthanasie war allerdings im Volksheim unmöglich. Auch betrieb die schwedische Sozialpolitik keine Geburtenförderung wie die deutschen Nationalsozialisten, sie war auf das Wohlergehen des Kindes zentrierte Familienpolitik. Alva Myrdal insbesondere propagierte nicht die Rolle der Hausfrau und Mutter, sondern die emanzipierte, berufstätige Frau, die ihr Kind ohne Ängste staatlichen Kinderbetreuungseinrichtungen überlässt. Und dafür gab es bald mehr Möglichkeiten als irgendwo sonst im westlichen Europa.

Ein nachhaltiger Effekt des Volksheims war der Ausbau des öffentlichen Sektors und damit das Entstehen von Frauenarbeitsplätzen in großer Zahl. Verwaltung, Gesundheitswesen, Bildung und Erziehung boten nicht nur einfache, sondern in wachsendem Maße qualifizierte Arbeitsplätze für Frauen. Schweden gewann eine Vorreiterrolle in der Frauenemanzipation weltweit, wenn es auch kein Paradies weiblicher Gleichstellung wurde. (Skard, Haavio-Mannila 1984) Die Tatsache, dass Frauenarbeit - so qualifiziert sie auch sein mag - niedriger bezahlt bleibt als Männerarbeit auf gleichem Niveau, und dass es überhaupt noch immer geschlechtliche Arbeitsteilung in der Berufswelt gibt, ist beschämend. Das gilt für Deutschland mehr als für Schweden. In Schweden waren die niedrigeren Frauenlöhne im öffentlichen Dienst schon in den siebziger Jahren einer der Stolpersteine für die "solidarische Lohnpolitik", die gleichen Lohn für gleiche Arbeit vorsah. Diese Ungleichheit konnte zum Thema werden, gerade weil die Frauen in besonderem Maße Gewinnerinnen der sozialstaatlichen Transformation waren. (Stråth 1996, S. 106 f.)

Gunnar und Alva Myrdal waren durchdrungen von dem Optimismus, nach schwedischem Muster der Ungleichheit im Weltmaßstab den Kampf ansagen zu können, nicht nur der Ungleichheit zwischen den Klassen, sondern auch der zwischen der ersten und der dritten, ehemals kolonialen Welt. Alva ging als Schwedens Botschafterin nach Indien und Gunnar Myrdal unternahm um 1960 ein großes Forschungsprojekt zur Modernisierung Südasiens, insbesondere Indiens. Als er die Ergebnisse in den drei Bänden des "Asian Drama" publizierte, hatte er kapitulieren müssen. Seine Vorstellung, durch geplante Entwicklung und die Installation wohlfahrtsstaatlicher Institutionen mit internationaler Solidarität der wohlhabenden Länder den Kreislauf von Armut und Unterentwicklung durchbrechen zu können, hatte er aufgeben müssen. Er wies nach, wie auch alle anderen modernisierungstheoretischen Ansätze westlicher Entwicklungsökonomen scheitern müssten: an Gier und Traditionalismus der korrupten herrschenden Kasten, die die schwachen Staaten zu ihrer Beute machten, an der hoffnungslosen Armut der Landbevölkerung, die sich an ihr Land klammerte, ohne ihm doch die nötigen Erträge abringen zu können, an Klima, Seuchen, Bevölkerungsdruck. Schließlich empfahl er die Einstellung aller großen Entwicklungsprojekte und Subsidien an die Staaten und einfache Hilfen für reines Wasser, Gesundheitsfürsorge, Schulunterricht. (Myrdal 1968; Barber 2008, S. 121-150; vgl. Die marxistische Kritik von Mattick 1968) Wo sich Neokolonialismus und Weltmarkt mit den Interessen einheimischer Eliten verbinden, läuft jegliche Entwicklungsplanung ins Leere.

Hätten die Länder Ost- und Ostmitteleuropas nach 1990 ein Feld für eine sozialstaatliche Transformation nach Myrdals Konzepten geboten? Der amerikanische Ökonom James Agresano ist davon überzeugt und liefert eine eingehende Kritik der osteuropäischen Transformation auf der Grundlage der Theorien von Gunnar Myrdal. (Angresano 1997, S. 121-145) Es gab in Ostmittel- und Osteuropa damals die verbreitete Hoffnung, man könne einen Kapitalismus nach schwedischem Muster bekommen, auf einen dritten Weg einschwenken, der den Wohlstand des Westens mit der Sicherheit des Ostens verbindet. Sollte Moskau nicht Stockholm werden können, wie die Rede damals auch in Schweden ging? Liefert die Korruption tatsächlich die alles erschöpfende Erklärung? Entsprechende Konzepte fehlten oder waren ohne Einfluss. Stattdessen transformierten die einheimischen Enthusiasten des Marktes im Bunde mit dem Expansionsdrang westlicher Ökonomien nach den neoklassischen Handbüchern der amerikanischen Ökonomen. Die Transformationsländer gehören sämtlich dem "liberalen" Typ nach Esping-Andersen an, ohne korporatistische Machtteilnahme von Arbeitnehmerorganisationen, ohne Hochlohn- und Hochsteuerpolitik, ohne soziale Bürgerrechte – und deshalb ohne nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, möchte man myrdalianisch hinzufügen. Angresano kontrastierte 1997 das Negativbeispiel Russland mit dem Erfolgsmodell China, ein Ansatz, den zu überprüfen sich eineinhalb Jahrzehnte später lohnen könnte.

4. Abbau des Sozialstaats von rechts und links

Als die marktwirtschaftliche Transformation in Osteuropa ihren Lauf nahm, wurden auch die Messen für den westeuropäischen Sozialstaat gelesen. Begonnen hatte der Prozess schon früher, aber seit den neunziger Jahren wurden öffentliche Einrichtungen im Bildungs- und Gesundheitswesen, Wohnungen und Verkehrsunternehmen, kurz, die ganze Ausstattung des schwedischen Volksheims in private Trägerschaft übergeben und privaten Trägern gestattet, solche weiterhin staatlich finanzierten Einrichtungen zu gründen. Die Profitorientierung hat die Sozialeinrichtungen nicht billiger, aber weniger verlässlich gemacht. Die großen Sozialsysteme der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung wurden gekürzt und teilweise auf private Vorsorge umgestellt. Renten orientieren sich nicht mehr an Einkommen und Beiträgen, sondern sind durch Kassenlage, Wirtschaftswachstum und demographische Faktoren beschnitten und müssen teilweise am Kapitalmarkt angelegt werden. Arbeitslosengeld und auch Krankengeld wurden zeitlich begrenzt. Die solidarische Lohnpolitik gehört der Vergangenheit an, die Steuern wurden hingegen abgesenkt. (Rosenberg 2013, S. 38 f.; Schmid 2010, S. 238–240) Schon zwischen 1975 und 1995 waren in 18 verglichenen OECD-Ländern die sozialen Sicherungssysteme so gekürzt worden, dass sie auf das Niveau der frühen sechziger Jahre oder - in Großbritannien unter Margaret Thatcher - auf das Niveau der dreißiger Jahre zurückgefallen waren. Die Einschnitte waren am zahlreichsten in den Staaten mit Basissicherung, die hier als Fürsorgestaaten bezeichnet wurden, und sie waren überwiegend vorgenommen von konservativen Mitte-Rechts-Regierungen. (Korpi, Palme 2003, S. 434-437) Beides sollte sich schnell ändern; die sozialstaatlichen Kernländer folgten nach, und die linken Regierungen stellten sich trendbewusst an die Spitze der Bewegung. (Butterwegge 2006, S. 233-265)

Irritierend ist die nahezu gleich bleibende Höhe der Sozialquoten. Der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt beträgt nach wie vor in allen OECD-Ländern etwa ein Viertel, in Schweden sogar rund ein Drittel. Diese Quote hat sogar zwischen 1980 und 2006 fast überall leicht zugenommen. Daraus wird geschlossen, dass wir gegenwärtig nicht einen Abbau, sondern einen Umbau des Sozialstaats erlebten. Genauere Betrachtung zeigt, dass es sich hier um eine Umschichtung von den zentralen, arbeits- und einkommensbezogenen korporativen Sicherungssystemen hin zu privaten Verbänden und Einrichtungen handelt. (Schmid 2010, S. 63–65; Lessenich 2012) Ein Zusammenhang mit erschöpften öffentlichen Haushalten und gebotener Sparpolitik ist also nicht wirklich zu erkennen, zumindest blieben die Umbauten ohne Effekt in dieser Hinsicht. Die höheren Verwaltungskosten privater Versicherungssysteme sind allgemein anerkannte Tatsache und auch im deutschen Riester-Renten-System wiederum erwiesen. Die Sozialausgaben sind also ein ungeeigneter Indikator für die Beurteilung der Effekte. Schaut man hingegen auf jene Indikatoren, die soziale Ungleichheit anzeigen, die also im direkten Zusammenhang mit dem Gleichheits-Ziel des Sozialstaats stehen, ist die Veränderung unübersehbar. Dort, wo soziale Gleichheit am nächsten schien, polarisiert sich die Gesellschaft in Arm und Reich. Die erreichten Fortschritte gehen verloren, die Sozialstaaten fallen auf das Niveau der Fürsorgestaaten zurück. Das ist die von Pierre Bourdieu benannte Gegenrevolution. (Tabelle 2)

Diese große konservative Wende setzte in den siebziger Jahren ein; sie hat wirtschaftliche und politische, kulturelle und soziale Komponenten, die ineinander wirken und Klassen durch Kultur, Gleichheit durch Gerechtigkeit, Sozialstaat durch Zivilgesellschaft ersetzten. Als Gunnar Myrdal 1974 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt, teilte er ihn mit Friedrich August von Hayek, der Architekt des Volksheims mit dem Philosophen des autonomen Marktes, der jede soziale Korrektur als den Weg zur Knechtschaft sah. Das war das Zeichen eines Paradigmenwechsels, der ein Jahrzehnt später übermächtig werden und mit dem Zusammenbruch des konkurrierenden planwirtschaftlichen Systems im sowjetischen Machtbereich seinen totalen Sieg feiern sollte. Doch auch die Gegner des Konservatismus im eigenen Lager waren geschwächt. Der postindustrielle Strukturwandel zog den Gewerkschaften den Boden weg. Westeuropa erlebte die Rückkehr der Massenarbeitslosigkeit, die die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften untergrub und eine solidarische Lohnpolitik unmöglich machte. Der schwedische Ökonom Walter Korpi sah damit den Eckstein des Sozialstaats fallen. (Korpi 2003) Er gab der Liberalisierung der Arbeitsmärkte durch die Europäische Union erhebliche Mitschuld, wie es der Deutung eines beträchtlichen Teils der sozialdemokratischen Verfechter des schwedischen Sozialstaats entsprach.

Diese Liberalisierung brachte allerdings eine verstärkte Zuwanderung in die wohlhabenden Staaten Westeuropas. Göran Rosenberg schildert die Schwierigkeiten der geschlossenen schwedischen Gesellschaft, diesen Zuzug zu verkraften. Schweden, das traditionell protestantische Rationalität mit Konsensbereitschaft, Offenheit und Solidarität in seinem Volksheim pflegte, entschloss sich zu einer vergleichsweise liberalen, auf Integration zielenden Immigrationspolitik. Der Anteil der Immigranten erreichte 15 Prozent und veränderte notwendigerweise die schwedische Gesellschaft. Das Selbstverständnis kam erheblich unter Druck, die nationalistische Erzählung vom Volksheim aller Schweden ließ sich nicht aufrecht erhalten. Sie ließ sich aber auch nicht einfach von einer völkisch-ethnischen in eine kulturelle Identität verwandeln. So entstanden auch in Schweden rechte, ausländerfeindliche Parteien. (Rosenberg 2013, S. 40–42) Was in Schweden geschieht, ist allgemein zu beobachten. Der europäische Sozialstaat war eine durch und durch nationalstaatliche, also nationalistische Veranstaltung. Er lässt sich nicht leicht auf europäische Dimensionen dehnen, schon gar nicht, wenn dies mit allgemeiner Liberalisierung, also mit seinem Abbau verbunden ist. Wie wäre der Tausch ethnischer gegen kulturelle, also wohl multi-kulturelle, Identitäten denkbar?

Der postmoderne Strukturwandel schuf sich vor allem im Dienstleistungs- und Informationssektor eine atomisierte Arbeitswelt mit Zeit- und Teilzeitverträgen, unter mannigfaltigem Anschein von Selbständigkeit. Diese Lohnabhängigen zu organisieren ist gleich schwer, wenn sie geringqualifiziert oder als mehr oder weniger legale Immigranten rechtlossind, und wenn sie als akademisches "Prekariat" auf selbstbestimmte Subjektivität bauen. Dieser soziale Wandel kann teilweise erklären, warum gerade zu Zeiten einer erneuten Polarisierung der Gesellschaft in Arm und Reich das Klassenkonzept aus der Öffentlichkeit verbannt werden konnte und Klassengegensätze hinter den Trennlinien zwischen Generationen, Geschlechtern, Ethnien verschwinden. Nachvollziehbar wird, warum soziale Gleichheit zugunsten eines Konzepts von Gerechtigkeit aufgegeben wird, das den Ausgleich individueller Bedürftigkeit ins Zentrum rückt. (Schmidt et al. 2007, S. 488)

Nicht zufällig ist seit den neunziger Jahren mit der "Zivilgesellschaft" ein Politikkonzept im Vormarsch, das auf eine Trennung von Staat und Gesellschaft nach amerikanischem Vorbild setzt. Es richtet sich direkt gegen den korporatistischen Sozialstaat. In Schweden hatte diese Debatte mithin eine besondere Sprengkraft. (Merkel 2008; Trägårdh 2007) Die Privatisierung und Zersplitterung sozialer Sicherung durch nichtstaatliche Dienste und Verbände hebelt die sozialen Bürgerrechte aus und macht den Bedürftigen zum Fürsorgeempfänger. Nichtregierungsorganisationen und Non-Profit-Organisationen aller Art sollen an die Stelle der klassenkämpferischen Gewerkschaften treten. Die Idee der Zivilgesellschaft fällt auf fruchtbaren Boden, da sie in der europäischen Geistesgeschichte eingewurzelt ist, unter anderem auch durch Hegel und Marx als "bürgerliche Gesellschaft", von wo sie den Propheten des Eurokommunismus, Antonio Gramsci, beflügelte. Es ist also nicht verwunderlich, dass das Konzept der Zivilgesellschaft Fürsprecher auf dem rechten wie dem linken Spektrum hat. Die Neue Linke, die in den sechziger Jahren aufbrach, ging von Beginn an auf Distanz zur Arbeiterbewegung, ihren Parteien und vor allem den Gewerkschaften. Sie hat sich inzwischen in einer neo- malthusianischen ökologischen Bewegung zusammengefunden, deren Ziele kaum weniger konträr zum Sozialstaat stehen, als einst die Ideen des Robert Malthus zu jeglicher Sozialpolitik.

Die sozialdemokratischen Parteien blieben nicht unbeeindruckt. Auch nationalistische Maximen der Standortpolitik und der Wachstumsförderung durch Liberalisierung blieben nicht ohne Einfluss auf sozialdemokratische Politiker. Der Wandel der britischen Labour-Party im Zeichen von "New Left" zu "New Labour" ist ebenso im Gedächtnis wie die gleichgerichtete Wendung der deutschen Sozialdemokratie zu Zeiten der rot-grünen Regierung um die Jahrtausendwende. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in Schweden, wo der Abbau des Sozialstaats als konzertierte Aktion eines breiten Parteienspektrums über mehrere unterschiedliche Koalitionen vollzogen wurde. (Rosenberg 2013) Erst diese sozialdemokratische Abbruchpolitik hat das Schicksal des Sozialstaats besiegelt, denn sie vollzog sich zum Vergnügen der Konservativen ohne parlamentarischen Widerstand. Für die sozialdemokratischen Parteien selbst war es eine Katastrophe; sie verloren einen erheblichen Teil ihrer Basis und ihre Glaubwürdigkeit. Dieser unmittelbare Schaden für die Demokratien wird übertroffen von jenem, den die Schwächung der sozialen Bürgerrechte langfristig eintragen muss. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung wird als eine neue Unterschicht ausgegrenzt und koppelt sich selbst als Nichtwähler von einem politischen Betrieb ab, der seine Angelegenheiten kaum noch berücksichtigt. Bleibt so nur das Bild der Depression, mit dem Rosenberg seinen Essay schließt, das Bild des Kommissars Wallander aus dem südschwedischen Ystad, wo es mehr Nebel als Schnee gibt und Mafiabanden aus dem Baltikum das einstige Volksheim verheeren?

Um die Jahrtausendwende sagten die Sozialwissenschaftler recht einhellig das Ende des Sozialstaats voraus; inzwischen fragen sich etliche, warum es ihn immer noch gibt. Die Antwort gibt die unglaubliche Massenunterstützung, denn zumindest der Glaube an ihn ist zählebig. Eine Untersuchung des entsprechenden Vertrauens in 32 Staaten, die von den Forschern entsprechend den drei Welten von Esping-Andersen als Sozialstaaten qualifiziert wurden, ergab - wenig überraschend - ein umso höheres Massenvotum für den Sozialstaat, je stärker er ausgeprägt gewesen war. (Brooks, Manza 2006) Und eine schwedische Untersuchung zeigte, ebenso wenig überraschend, dass vor allem die Arbeiter, die Frauen, die Bewohner von Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit und die Beschäftigten im öffentlichen Dienst am Sozialstaat festhalten wollen. (Edlund 2006) Das sind keine Randgruppen. Die Frage ist, wie es ihnen gelingen wird, sich politisch Geltung zu verschaffen.

Tabelle 1: Armutsraten und Einkommensungleichheit in OECD-Ländern um 1985. Quelle: Korpi, Palme 1998, S. 647.

Armutsrate (Prozent) Einkommens-Ungleichheit (Gini-Koeffizient)
Sozialstaaten (Staaten mit einkommensbezogenen Sozialversicherungssystemen)
Finnland 4,1 0,231
Norwegen 3,50,232
Schweden 4,90,215
Frankreich 8,50,292
Deutschland5,80,243
Fürsorgestaaten (Staaten mit existenzsichernder Grundversorgung)
Kanada 10,9 0,279
Schweiz 7,4 0,320
Großbritannien 13,2 0,293
USA 17,9 0,333

Tabelle 2: Armutsraten und Einkommensungleichheit in OECD-Ländern im Vergleich 1985 und 2010. Quellen: 1985 wie Tabelle 1; 2012: OECD 2013

Armutsrate (Prozent) Einkommens-Ungleichheit (Gini-Koeffizient)
Um 1985 2012 Um 1985 2012
Finnland 4,1 8,0 0,231 0,260
Norwegen 3,5 8,0 0,232 0,250
Schweden 4,9 8,4 0,215 0,260
Frankreich 8,5 7,2 0,292 0,290
Deutschland 5,8 9,0 0,243 0,300
Kanada 10,9 12,0 0,279 0,320
Schweiz 7,4 9,3 0,320 0,300
Großbritannien 13,2 11,0 0,293 0,340
USA 17,9 17,3 0,333 0,380

Prof. Dr. habil. Helga Schultz